Weiterarbeit von Thomas Körner nach dem Fragmentroman

Thomas Körner

Unermeßlich mir zugestoßene Liebkosung

Eine purgatorische Bilanz

Die purgatorische Bilanz läßt sich verstehen als poetisch-intellektuelle

Konstruktion, in welcher die Zustände geistiger Freiheit sich

synchronizistisch verhalten können. Diese  Synchronizität schließt die

bisher erörterten Phasen der Selbstwerdung ein und erweitert die

Darstellung räumlicher Sprachzeichenensemble bis zur Idee einer, der

relativistischen vergleichbaren synchronizistischen Schreibweise.

Damit greifen diese Texttafeln die sieben Sternbilder aus dem

Fragment von der Flucht wieder auf und führen sie im Sinne

der galaktischen Phase der Selbstwerdung (Fragment vom Buch,

Dritter Kasten) weiter. Allerdings verlangt die Konstruktion eine

insgesamt veränderte Auffassung, die ich als idealischen

Kunstsinn des apollinischen Mannes bezeichne. (Mit Bezug zum

naivischen Tatsachensinn des puer aeternus und dem

heroischen Möglichkeitssinn des luziferischen Jünglings.)

Die Tafeln beschreiben jedenfalls nicht, sondern erzeugen eine ideelle

Welt, der als Ausgangspunkt eine Welt des Bedingten zugrunde liegt.

Annähernd das Wesen der Dinge in möglichst genauen Verstandes-

begriffen auszudrücken, quasi als Gesamtheit der Fakten, wie sie durch

meditatives, lesendes Anschauen und Bedenken entsteht,

ist der Sinn der Mandalaförmigkeit der Tafeln.

Das mag durchaus erinnern an die frühen Strichdiagramme und

Wortgraphiken im Fragment vom Buch oder die nicht erhaltenen

Arbeiten mit verschiedenfarbigem Papier auf Glas – was aber erreicht

werden soll, ist eine intelligible, transzendente, durch Denken

entstandene und durch Denken vollziehbare Lektüre.

Kürzer gesagt: Gegeben wird ein Begriff des Bedingten, dessen Inhalt

der Leser sich erdenken mag, möglich durch die Vorstellung des

Purgatoriums nicht als „ post mortem“ zu verhängendem – vielmehr

ist damit das gelebte Menschsein selbst gemeint.

Im Folgenden sehen Sie den Bauplan und die sieben Tafeln.

Bauplan
Meer
Berge
Wüste
Regenwald
Gletscher
Vulkane
Himmel

Alle Fotos von: Christina Nachtsheim

Was haben Bestrebungen, die Bestimmungsgründe der DDR-Literatur neu auszuloten, mit Körners Schreibprojekt zu tun?

In den 90er-Jahren wurde viel darüber geforscht, was zur DDR-Literatur gehört und wie sie dazu wurde. Aber schon in den 2000-er Jahren wurde es immer stiller um solche Forschungsansätze. Nun, 30 Jahre „danach“, kommt eine Rückbesinnung in Gang und es finden wieder Überlegungen statt, wie man die Literatur aus der DDR noch einmal von einer anderen Seite sehen könnte: Auf einer Tagung im Mai nächsten Jahres im Literaturhaus Halle soll die Reportage-Literatur der DDR zum Thema werden.

U.a. soll die Modernität der DDR-Literatur, der ursprünglich eine urdemokratische Intention zu Grunde gelegen haben soll, erneut beleuchtet werden.

Thomas Körner hat mit seinem „Fragmentroman“ betitelten Projekt „Das Land aller Übel“ ein demokratisches Ansinnen gehabt, insbesondere der Leser kann vollkommen autonom handeln und sinnieren (was Körner ensemblieren nennt).

Gegen alle literarischen Vorschriften, die von der Kulturpolitik oder von der SED oder vom eigenen Schriftstellerverband vorgegeben wurden, setzte Thomas Körner von Anfang an seine eigenen Ideen von Literatur und schrieb seinen Fragmentroman.

Warum Roman – weil es die bis dahin freieste literarische Form ist, in der der Schriftsteller arbeiten kann. Körner ist – und bleibt – auf der Suche nach einer neuen Gattung.

Warum Fragment – nicht, weil der Roman Fragment geblieben ist, das ist er nicht, er ist nach Körners Vorstellung vollendet.

Warum Fragment – auch nicht, weil der Roman sich aus Fragmenten zusammensetzt.

Fragment, weil der Leser jeweils eigene (Text-)Fragmente für sich bildet oder bilden kann.

Fragment, weil der Leser sich ein Fragment, ein Teil aus dem Ganzen erliest.

In der DDR gab es zensierte, kontrollierte Literatur, die vom Verlagswesen bis hin zu kulturpolitischen Gremien von Regularien durchwandert war.

Aus den Regularien bildete sich das Leseland DDR und seine demokratische Leserschaft einen (landes-typischen) Kanon, der, wie der Archivar der „Bundesstiftung zur Aufbereitung der SED-Diktatur“ Matthias Buchholz bestätigt, nicht mehr aufzubrechen ist. Die Lese-Erinnerungen lassen sich nach 30 Jahren nicht mehr umbilden. Deshalb wird Literatur, die zu Zeiten der DDR nicht oder wenig gelesen wurde – oder gar nicht gelesen werden konnte, weil sie versteckt gehalten werden musste – keine Chance mehr haben, „dazuzugehören“.

Doch unter diesem Aspekt sollte man Thomas Körners Fragmentroman auch nicht sehen.

Seine Intention war von vornherein, eine neue Literatur zu entwerfen und zu gestalten, die anders ist als bisher, innovative Techniken beim Schreiben zu nutzen und – auf dem Bildschirm – zu veröffentlichen.

Für Körners Schreibprojekt ist nicht die Neu-Erforschung der alten DDR-Literatur oder ihrer Teile ein Aufhänger, sondern man muss die Diskussion über neue Gattungen im Internet erneut aufgreifen, die zum Ende des vorigen Jahrhunderts eingeschlafen ist.

Ausflug aus dem Roman: Weitere Musiktexte von Thomas Körner: DER INTENDANT. Ein Satyrspiel. Musik von Franz Hummel, Libretto von Thomas Körner

Zitat: DER INTENDANT. EIN SATYRSPIEL ist eine Kopfgeburt aus dem hochgebildeten Schädel des Librettisten Thomas Körner, der für seine „Theateroper“, so der Untertitel, alles aufbietet, was die Brettergeschichte hergibt. – Auszug aus „Musiktexte 1997 – Ausgaben 67 – 72, S. 110

oder

im Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Bd.7 Experimentelles Musik- und Tanztheater auf S. 224 liest man:

Der große politische Reformator Michail G. erscheint in Thomas Körners tragikomischem Libretto bei der Probe für eine Politbürositzung … Gleichermaßen wurde die Fabrikation eines Mythos und seine Demontage sichtbar und hörbar gemacht…. Das „Satyrspiel“ vom Intendanten in der Bundeskunsthalle in Bonn folgt wiederum einem Libretto von Thomas Körner. Es entpuppte sich als Theateroper voll Selbstreflexion der Gattung, gestützt auf eine viersätzige Suite für Streichquintett, Klarinette, Horn und Klavierduo.

Ausflug aus dem Roman: Zusammenarbeit Körners mit der Komponistin Adriana Hölszky, u.a. Libretti für die Oper BREMER FREIHEIT, für DIE WÄNDE nach J. Genet und das Experimentalstück TRAGÖDIA (Der unsichtbare Raum)

Der Musikwissenschaftler Peter Petersen beschreibt Adriana Hölzsky als eine der profiliertesten Persönlichkeiten der gegenwärtigen Musik. Sie habe eine Musiksprache mit ganz eigenen Zügen entwickelt. Diese sei mehr auf der Seite der Geräusche denn auf der Seite der Tonhöhen angesiedelt, man könne es eher Klangkunst nennen.

Hölszky wolle mit ihrer Musik „auf den ganzen Menschen wirken, nicht nur auf seine Fähigkeit, Beziehungen zwischen Tönen und Geräuschen herzustellen.“

Sie hat fünf abendfüllende Opern komponiert. Zu drei von ihnen hat Thomas Körner die Libretti geschrieben.

Es handelt sich um die Opern

BREMER FREIHEIT nach Rainer Werner Fassbinder – Singwerk auf ein Frauenleben
Uraufführung 1988 in München zur Biennale für neues Musiktheater

DIE WÄNDE nach Jean Genet’s Les Paravents, Musik-Theater in drei Akten (1993-95), Uraufführung in Wien zu den Wiener Festwochen 1995

TRAGÖDIA (Der unsichtbare Raum) 1996/97 Ein Werk mit theatralischen Räumen für Bühnenbild, 18 Instrumentalisten, Tonband und Live-Elektronik,
Uraufführung 1997 in Bonn in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland

Adriana Hölszky sagt zu dem Experimental-Stück TRAGÖDIA:

„Es gibt zwar einen Text (von Thomas Körner), aber der erscheint nicht. Ich kenne ihn zwar, aber ich habe daraus nur die Strukturen genutzt, Verszahlen gezählt, und daraus die Länge der Abschnitte in den Sektionen bestimmt. Klanglich kommen immer wieder Situationen und Säulen, die einen Ablauf unterbrechen. Schnittstellen. Vielleicht hat das etwas mit dem Tragischen zu tun, das Körner in antiken Allegorien versammelt. Das Ganze hat 13 Abschnitte, die unterschiedlich lang sind und Subsektionen haben. Es ist wie eine Plastik. Die Materialien haben so die Funktion, die eigentlich die Figuren hätten. “

(Diese Aussagen kann man in der Ausgabe „Musiktheater Oper und Ballett 2012“ des Musik-Verlags Breitkopf & Härtel unter dem Stichwort Adriana Hölszky (auf S. 38 – 43) nachlesen. Zu finden hier)