Lesesystematik am Beispiel Richard III von Shakespeare

Lesen mit System

Lesen bedeutet bei Thomas Körner Zergliedern und Wieder-im-richtigen-Verhältnis-Zusammensetzen. Das kann auch eine Systematik sein, wie unten gezeigt wird.

Der Leser soll intensiv und bedächtig den Lesestoff „in psychischer und physischer Tätigkeit“ rezipieren. Physisch lesen bedeutet,  jeden Satz, jedes Wort einzeln intensiv wahrzunehmen, ohne Beachtung der Grammatik, Interpunktion, Gliederung, d.h. jeden Satz in Worte, Metaphern in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Psychisch lesen bedeutet, die gewonnenen Einzelteile für sich mit Sinn neu aufzuladen und im richtigen Verhältnis (für den durch den Leser erstellten Text)  wieder zusammenzusetzen. Diese intensive Lese-Tätigkeit versteht Körner unter dem Begriff »Ensemblieren«.

Dabei sollte der Leser auch gleich noch einer eigenen Systematik folgen, z.B. das Material (z.B. nach einem System) ordnen, es theatralisch oder experimentell inszenieren. Sein eigenes System des Lesens beschreibt Körner sehr ausführlich an seinen Notizen zu Shakespeares Richard III im Fragment vom Buch Vierter Kasten.

Wenn Sie dies nachvollziehen wollen, geht es hier lang:

Beispiel für die Systematik in Körners Lese-Notizen zu Shakespeares Richard III

Vertikale Ensemblierformel

Ensemblieren heißt bei Körner, nach dem intensiven zergliedernden Lesen die neu gewonnenen Satzteile im richtigen Verhältnis wieder zusammenzusetzen.

Körner unterscheidet nach horizontalem und vertikalem Ensemblieren.

Für das vertikale Ensemblieren findet er die Formel : a-f-t-org-ord-r/sv oder bwz:
act fact tendenz organisation ordnung mit dem Resultat SV Seinssachverhalt oder BWZ Bewußtseinszustand. Diese Formel gibt das Verhältnis von einer Karteikarte zu einer oder mehreren anderen Karten an.

Act (als ein Raumpunkt) ist das Elementarteilchen des Ensemblierens, mit fact wird das Verhältnis mehrerer acts zueinander beschrieben, die eine Tendenz zeigen. Die Tendenz organisiert mehrere Fakten zueinander, letztlich wird eine Ordnung geschaffen.

Literarisch-praktische Beispiele für die Anwendung der Formel bringt Körner selbst im Fragment vom Buch Vierter Kasten, wo er seine Lesenotizen zu Shakespeares Richard III notiert hat, z.B. auf Karteikarte 0940:

Weitere Ensemblierbeispiele findet man hier.

Ensemblieren

Vertieft lesen und sich die Zusammenhänge selbst erschließen

Thomas Körner stellt sich vor, dass der Leser mit einer neuen Arbeitstechnik an das Lesen herangeht, weil es hier kein Blättern von Seite zu Seite (eines Buches) gibt – wie es in unserer seit Jahrhunderten eingeübten Kulturtechnik des Lesens üblich ist. Körner beschreibt das in seinem Fragment vom Buch auf einer Karteikarte:

Ensemblieren als eine neue Art zu lesen

Der Erste Kasten im Fragment vom Buch

Das Fragment vom Buch umfasst fünf Kästen, die ursprünglich in der Form von Karteikästen entstanden sind. Der Erste Kasten in Körners Aufschreibesystem gilt als das Arbeitsdossier Körners, in dem er seine Gedanken zum Konzept des Romans und der Themenauswahl notiert hat. Dieser ursprünglich in der Form eines Karteikastens begonnene Textteil umfasst allein mehr als 700 Seiten.

Als Beispiel sehen wir hier eine der ersten Seiten des Karteikastens mit einer Liste der von Thomas Körner verwendeten Grundbegriffe, auf die er immer wieder zurückgreift.

Grundbegriffe bei Thomas Körner

Körner bezieht sich u.a. auf die Handgriff-Theorie mit Arbeitseinheiten im Taylorismus oder er kürzt die beiden Erzählstimmen Kommentarloser Realismus und Barbarocker Kabarettismus ab. Weitere Zusammenhänge erklärt er hier: Struktur der Dinge, die mich machen .

Hier gelangt man direkt zum Fragment vom Buch Erster Kasten.